Wir leben in der sogenannten postmodernen Zeit. Diese ist durch die Meinung gekennzeichnet, dass alles für machbar und alles für sofort machbar gehalten wird.
Gleichzeitig machen wir oft die Erfahrung, dass wir für unser Dasein keine Erklärung haben. Eine Sinnfrage kann jedoch nicht gestellt werden, weil eine Antwort für nicht möglich gehalten wird. Das Leben erscheint unübersichtlich, wir werden ständig mit einer Fülle von Informationen überschüttet und suchen gleichzeitig nach einfachen Lösungen. Individuelle Freiheiten werden sehr hoch bewertet, ein großer Relativismus hat sich breit gemacht und es kommt zu einer Krise von Strukturen und Autoritäten, von der auch die Katholische Kirche betroffen ist.
Der Lehrbrief beschreibt die Krise der Kirche und die möglichen Ursachen aus ihrer eigenen Sicht.
In Lateinamerika sind schon über 10% der Bevölkerung evangelisch geworden, die meisten davon durch Pfingstgemeinden. Die aktiven, praktizierenden Katholiken dort sind nur 15%. In den USA gibt es etwa 35 Millionen Mitglieder in evangelikalen oder pfingstlerischen Freikirchen, davon etwas 30% ehemalige Katholiken. Daneben gibt es auch die Beobachtung, dass in Gemeinden und Gemeinschaften der Katholischen Charismatischen Erneuerung wieder viele aus solchen Freikirchen katholisch werden.
Erzbischof Robert Sanchez von Santa Fe sagte dazu: „Vielleicht sollten wir diese Herausforderung nicht als Bedrohung sehen, sondern als ein Sprungbrett, dem es mit Erfolg gelungen ist, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und uns so von unserer Gleichgültigkeit und falschen Sicherheit zu befreien“.
Kardinal Francis Arinze wies bei einem Treffen der Kardinäle darauf hin, dass die neuen religiösen Bewegungen gerade an den Schwachstellen unserer Pastoral aktiv werden:
- Sie bilden in kurzer Zeit eifrige Leiter und Evangelisten aus, während unsere Priester wenig sind und kaum genügend Laien-Seelsorger ausbilden können.
- Sie wirken ansteckend mit ihrer Dynamik und bemerkenswerten Hingabe, während unsere Leute lau, gleichgültig und langweilig wirken.
- Sie betonen die Erlösung durch Christus allein, im Gegensatz zur weit verbreiteten Unsicherheit unter Katholiken über Grundfragen des Glaubens.
- Sie bauen kleine Gemeinschaften und Zellgruppen auf, während katholische Pfarreien zu groß und unpersönlich wirken, als dass der Einzelne sich geliebt und angenommen weiß und erfüllende Aufgaben bekommen kann.
- Sie übertragen Verantwortung, Leitung und Seelsorge an Laien-Helfer schon nach kurzer Ausbildungszeiten, während sich bei uns fähige Laien, Frauen und Männer, an den Rand gedrängt fühlen. (Schon der hl. Franz von Sales hatte gesagt, dass der eifrigste Seelsorger nur bis zu 15 Personen seelsorglich betreuen könne, dass daher neben den Klerikern auch geeignete Ordensleute und Laien, Frauen und Männer für diesen Dienst aneinander geschult werden müssen! Bei uns wird leider der Dienst des Priesters mit dem Dienst der Seelsorge als identisch gesehen und so gibt es z. T. noch Hemmungen, Laien als geeignete Seelsorger anzuerkennen.)
- Sie feiern voll Eifer begeisternde Gottesdienste, während unsere heilige Liturgie oft Routine ist und kühl wirkt.
Sie drängen zu einer persönlichen Entscheidung für Jesus Christus und halten sich treu an die Bibel, während bei uns viele Homilien allzu intellektuell sind, über die Köpfe der Menschen gehen, und nicht den Mut haben, zur Entscheidung für Jesus aufzurufen. - Sie betonen und erleben eine persönliche Beziehung zu Gott, während die Kirche zu sehr als Institution dargestellte wird, die Strukturen und Hierarchie betont.
Kardinal Arinze ruft uns auf zur Selbstkritik: „Warum zieht es so viele Menschen zu diesen neuen religiösen Bewegungen? Was sind die legitimen Bedürfnisse dieser Menschen, auf die diese Bewegungen eingehen, und auf die man auch in der Kirche eingehen sollte? … Was möchte Gott von Seiner Kirche in dieser Situation? … die Dimension der religiösen Erfahrung darf nicht vergessen werden in unserer Verkündigung des Christentums. Es genügt nicht, nur dem Verstand Information anzubieten. Christentum ist weder ein Bündel von Lehren noch ein System der Ethik. Es ist Leben in Christus, das immer tiefer gelebt und erfahren werden kann.“
Zum Schluss bemerkt Kardinal Arinze: „Angesichts der dynamischen Aktivitäten der neuen religiösen Bewegungen können die Hirten der Kirche nicht so weitermachen wie bisher. Dieses Phänomen ist eine Herausforderung und eine Chance …“
Ein falscher Stolz auf unsere Katholische Kirche stellt uns in eine ähnliche Situation wie einst das auserwählte Volk Gottes, zu dem der Prophet Jeremia sagen musste: „….bessert Euer Verhalten und Euer Tun, dann will ich bei Euch wohnen, hier an diesem Ort. Vertraut nicht auf die trügerischen Worte: Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist hier! ….“ (Jer 7,1-7).
Wir sehen daraus die Notwendigkeit in Buße vor den Herrn zu treten, um Vergebung für uns und unserer Kirche zu beten, Ihn zu bitten, wieder neu zu uns zu kommen und uns in Seinem Geist zu erneuern.
Als Charismatische Erneuerung sind wir aber auch gerufen, alle Müdigkeit abzuschütteln, zur ersten Liebe (lies: Off 2,4-5!) zurück zukehren, unsere Gaben und Charismen voll zu entfalten und sie als Dienst unserer Kirche anzubieten und mitzuarbeiten, dass unsere Kirche mit ihren Gemeinden wieder mit neuem Eifer und neuem Leben erfüllt wird und aufblüht, so wie Jesus sie möchte.
Stellen wir uns Ihm und Seiner Kirche zur Verfügung, helfen wir mit bei der Evangelisation und beim Aufbau lebendiger Zellen und Gruppen, üben wir Seelsorge aus unter der Führung und mit den Charismen des Heiligen Geistes, lernen wir in Demut und Liebe aufeinander zu hören und miteinander als Gemeinschaft zu leben und zu wirken, und wir werden, als Erneuerung, wie Papst Johannes Paul II. es sagte, „eine Chance für die Kirche und die Welt“ sein – aber nur dann!
Pfr. Gustav Krämer